Die Ermordung von Wilhelm Ganzhorns Großtante Maria Ganzhorn

Maria war die im November 1685 geborene Schwester von Wilhelm Ganzhorns Großvater Peter Ganzhorn. Sie erlitt ein schlimmes Schicksal.

Nach den erhaltenen Archivalien ereignete sich folgendes: Johannes Scherlin von Heimsheim, Fourier-Schütze im Reischach’schen Regiment (Leibkompanie), war im Sommer 1703 während des Spanischen Erbfolgekriegs von den Franzosen bei Illereichen gefangen genommen und nach Ulm gebracht worden. Er flüchtete und begab sich zu seiner Mutter nach Sindelfingen. Nachdem er eine neue Montur und „frisches Geld“ erhalten hatte, ging er am folgenden Tag, dem 25. 9.1703, nach Böblingen, um sich eine Hutschnur zu kaufen. Dort traf er zwei Corporale, mit denen er von morgens 9 Uhr bis nachmittags um 2 Uhr im Adler – Wirtshaus saß. Dann gingen alle nach Sindelfingen, wo sie mit einem weiteren Musketier im „Ochsen“ noch 3 bis 4 Maß Wein tranken. Scherlin besuchte anschließend eine Gassenwirtschaft, aß dort als erste Mahlzeit an diesem Tag Brot und Käse und trank ein halbes Maß Wein.

Da ritt Johann Felix Bech an der Wirtschaft vorbei. Dieser stammte von Lustnau, war Musketier im gleichen Regiment und tat Dienst bei der in Sindelfingen wohnenden Frau des Capitain – Lieutenants. Bech wollte nach Renningen, um einen Vetter nach einem Hochzeitstermin zu fragen. Scherlin bot sich an, ihn bis Maichingen zu begleiten, und versprach ihm, dort ein halbes Maß Wein „einschenken zu lassen“. Sie gingen zu Fuß und kehrten in Maichingen ein. Dort bemerkten sie, dass Bech, wenn er wie vorgesehen nach Renningen gehen würde, nicht bis zur Zeit der Fütterung der Pferde wieder in Sindelfingen sei. Daher kehrten sie sogleich dorthin zurück.

Inzwischen hatte die Abendglocke in Maichingen geläutet, es waren aber noch Leute auf dem Feld. Die 18jährige Maria Ganzhorn, nach dem Vermerk des Pfarrers eine „fromme, gottseelige und käusche Jungfrau“, suchte dort ihre Schweine. Als sie die beiden Soldaten nicht weit vom Dorf in einem Wiesengelände sah, lief sie weg. Bech sagte zu seinem Kameraden: „Dieses Mensch fliehet uns, wollen sehen, was es vor ein Mensch seye.“ Sie liefen ihr nach, Scherlin voraus, Bech etwa 5 bis 8 Schritte hinter ihm. Während des „Nacheilens“ zog Scherlin seinen Degen und schlug der Flüchtenden einige Male an den Rock. Diese schrie mehrmals „Jesus!“. Wie sich später aus den Spuren auf ihrem Rücken ergab, hieb Scherlin auch auf ihren Körper. Schließlich gab er ihr mit dem Degen von hinten einen Stich ins Herz. Sie war sofort tot.

Ein Arzt und der Chirurg Elias Graff von Böblingen untersuchten die Leiche, wobei Graff die Brusthöhle öffnete. Die Täter erklärten, sie hätten nichts von einer Verletzung der Frau bemerkt. Scherlin sagte, er habe den ganzen Tag getrunken und „er müsse sie im Nachlauffen und im HineinturmeIn gestoßen haben“, doch könne er sich nicht erinnern, wie der Stoß mit dem Degen geschehen sei. Er sei „dem Mägdlein nur aus Spaß nachgeloffen „. Bech erklärte, Scherlin sei nicht so betrunken gewesen, dass er nicht gewusst habe, was er tat. Bech sagte weiter, er habe Scherlin auf eine Verwundung des Mädchens angesprochen, doch habe „der von keiner Verlezung wissen wollen“.

Zuständig für die Aburteilung war der herzogliche Oberrat. Sein Urteil hatte auf einem Gutachten der Juristenfakultät der Universität Tübingen zu beruhen. Oberrat und Fakultät waren der Ansicht, dass Scherlin „aus purem Muthwillen“ auf offener Straße einen Totschlag begangen habe, wofür er die Todesstrafe verdiene. Nach heutigem Recht wäre die Tat als Mord zu bewerten, da sie aus niedrigen Beweggründen (Lust am Töten) begangen wurde. Scherlin würde heute als roher und gefühlsarmer Mann charakterisiert, der mit der Tat sein Überlegenheitsgefühl gegenüber der jungen Frau beweisen wollte. Möglicherweise machte er beim Nachlaufen in seiner Trunkenheit reflexartig das, was er als Soldat gelernt hatte.

Die Leiche wurde auf dem Rücken liegend vorgefunden. Arme und Beine („alle viere“) seien ausgestreckt gewesen. Rock und Hemd waren nach einer Aussage bis zu den Schenkeln hochgezogen, nach dem Bericht des Oberrats war der Körper bis „über den Bauch ganz entblößet“. An den Schenkeln fanden sich ebenso wie an den Ellenbogen „blawe Mahlen“. Das Tübinger Gutachten erwähnte das nicht mehr erhaltene Protokoll der Anhörung des Bruders, der wohl die Leiche als Erster gesehen hatte. Zur Untersuchung wurden die Hebamme und die „geschworenen Frauen“ von Maichingen beigezogen. Die äußeren Schamlippen der Leiche seien geschwollen gewesen und die inneren hätten „eine attrition (gewaltsamen Druck) erlitten“ bzw. seien lädiert gewesen. Die Untersuchenden kamen zum Ergebnis, dass einer oder beide Täter zu einem Stuprum violenturn (einer gewaltsamen Schändung) „angesetzt hätten, aber wegen ihrer Trunckenheit oder wegen der Entleibten resistence willen ihre Boßheit nicht haben vollbringen mögen.“

Der Oberrat berichtete an den Fürsten insoweit von einem „allen vermuthen nach an der Entleibten begangenen oder wenigsten attentierten stuprum violentum“. Die Juristenfakultät empfahl, zu diesem Komplex Scherlin unter der Folter zu vernehmen. Die Folter sollte durch „Schnierung“ und durch „etwas Elevirung, doch so daß er mit den Zehen ein Haalt auf dem Boden noch haben könnte“, ausgeführt werden. Bech sollte ebenfalls nochmals hierzu vernommen werden, und zwar unter Androhung der Folter und Vorzeigen der Instrumente durch den Scharfrichter. Tortura und Territio waren jedoch „gantz vergeblich“. Scherlin erklärte, er sei „der Menschen“ nicht nahegekommen. Bech sagte, er wisse nicht, dass Scherlin mit ihr Unzucht oder Leichtfertigkeiten getrieben habe. Nachdem Folter bzw. deren Androhung nicht zu anderen Aussagen führten, erfolgte keine Verurteilung hinsichtlich dieses Komplexes. Die Juristenfakultät meinte allerdings, bei Scherlin komme es hierauf bei der Verurteilung nicht an, da er ohnedies die Todesstrafe erhalte.

Nach der Tat setzten Scherlin und Bech ihren Weg nach Sindelfingen fort und trafen etwa einen Büchsenschuss vom Tatort entfernt auf der Straße den Bauern Georg Nuber von Maichingen. Er trug zwei Ochsenjochriemen unter dem Arm. Sie gingen auf ihn zu und verlangten die Herausgabe der Riemen. Als Nuber dies ablehnte, erklärte Scherlin, der Donner solle ihn erschlagen, und Bech ergänzte, „der Teufel solle ihn holen“. Doch erst als die beiden drohten, sie wollten ihn „niederhauen“ und Scherlin nach seinem Degen griff, gab der Bauer die Riemen heraus. Scherlin gab einen an Bech. Beide wollten die Riemen verkaufen und „das Geld versauffen“. Bech wurde insoweit wegen eines Raubs verurteilt.

Die Täter wurden am nächsten Tag verhaftet und zunächst vom Vogt in Böblingen vernommen. Dann kamen sie nach Stuttgart. Nachdem das Consilium in Tübingen eingeholt war und die Tortur vollzogen bzw. angedroht war, wurde mit Urteil vom 12.12. 1703 Scherlin zum Tod durch das Schwert und Bech zu einem Monat Arbeit und Bezahlung der Prozesskosten verurteilt. Das Todesurteil wurde am 20. Dezember in Stuttgart vom Tübinger Scharfrichter vollstreckt, da sein Stuttgarter Kollege „wegen Ohnpäßlichkeit und zugestoßenen Gliederwehens“ nicht tätig werden konnte. Bech hatte seine „Schaffarbeit“ bei der herzoglichen Bauverwaltung abzuleisten.

In Maichingen wurde ein steinernes Gedenkkreuz mit folgender Inschrift aufgestellt: ,,1703 ist Maria Ganzhorn, Peter Ganzhorn, Bauer, ledige Tochter, eine fromme Jungfrau, von zwei trunkenen Bösewichtern, so eines Kapitäns und Leutnants Knechte gewesen, mißhandelt und erstochen worden und mit großem Leidwesen ihrer Eltern und der ganzen Freundschaft unter großem Leichenbegräbnis begraben worden, ihres Alters 18 Jahre.“ Im Kirchenbuch erwähnte der Pfarrer ebenfalls das Leidwesen „ihrer Eltern, Geschwistrigt und gemein Freundschafft“ sowie die sehr große Leichenprozession.

Das Kreuz stand bis 1970 auf dem Gelände der Wagnerei Frank, Bismarckstr. 20, und zwar auf dem hinteren Teil des Grundstücks. Ob hier der Tatort lag, ist jedoch zweifelhaft. Im Bereich der späteren Wagnerei war zwar im 18. Jahrhundert ein Wiesengelände, doch führte hier nicht die Straße nach Sindelfingen. Die Sindelfinger Straße durchquerte ein Wiesengelände im Bereich der Schwippe beim heutigen Stadion. Auch hier könnte der Tatort gewesen sein.

Dem Kreuz fehlt heute ein Arm. Er brach ab, als während des zweiten Weltkrieg in der Wagnerei eingesetzte russische Arbeiter schweres Holz darauf lagerten. Bei Erweiterung der Wagnerei 1970 wurde das Kreuz zunächst zum Bauhof (Bockstall) und dann auf den Friedhof gebracht. 1992 wurde es vor die Maichinger Laurentiuskirche versetzt und Teil eines Mahnmals für geschundene Frauen.“

Quelle: Wilhelm Ganzhorn, Dichter des Liedes „Im schönsten Wiesengrunde“ – und seine Frau Luise geb. Alber – Leben, Gedichte, Familien, Ahnen“ von Jürg Arnold, Ostfildern 2004, Seiten 192 – 194. Gulde-Druck GmbH Tübingen