Der Sindelfinger Stiftsbezirk
Von Dr. Alfred Hinderer
Das erste Benediktinerkloster und die Martinskirche
Eine frühe Kapelle und ein Herrenhof
1973 wurden bei der grundlegenden Renovierung unter der Martinskirche Überreste eines ausgedehnten christlichen Friedhofs gefunden. Da Friedhöfe stets nahe einer Kirche angelegt wurden, ist dies der indirekte Nachweis einer christlichen Kapelle oder Kirche, die vermutlich dem heiligen Martin von Tours gewidmet war. Die Bereiche auf dem heutigen Kirchenvorplatz könnten weitere Zeugnisse liefern, blieben aber bisher unerforscht.
Man weiß, dass diese Gegend im Besitz des Grafen Adalberts II., genannt Atzimbart, war. Seine Vorfahren hatten in Sindelfingen einen Herrenhof erbaut, vermutlich ein Steinhaus mit angegliedertem Wirtschaftshof. Die starken Steinfundamente, die man im Westteil unter der Martinskirche fand, könnten die seines Wohnturms sein. Sie sind aber vermutlich eher die Fundamente einer nicht weiter gebauten Doppelturmanlage.
Ursprung in Hirsau
In Hirsau gab es seit 765 östlich der Nagold an der Kreuzung der heutigen Liebenzeller- und der Wildbader Straße eine kleine Nazariuskapelle oder -kirche. Um 830 überbrachte Bischof Noting von Vercelli die Gebeine des Heiligen Aurelius von Riditio von Mailand zur Beisetzung nach Hirsau. Aurelius war Bischof von Armenien und starb 475 in Mailand. Solche Reliquien hatten einen großen Zulauf von Gläubigen zur Folge. Deshalb bauten die Calwer Vorfahren die Nazariuskapelle in ein kleines Kloster mit dem Namen des Heiligen Aurelius aus. Es verfiel nach dem Jahr 1000.
Graf Adalbert II. gründete mit seiner Frau als Ersatz für dieses erste Aureliuskloster um 1050 in Sindelfingen ein neues Benediktiner-Doppelkloster mit Mönchen und Nonnen. Der Papst drängte aber darauf, das Hirsauer Aureliuskloster wieder herzustellen und die Gebeine des Aurelius darin beizusetzen. Adalbert löste daraufhin das Sindelfinger Doppelkloster wieder auf und führte die Mönche und Nonnen nach Hirsau zurück. Der Sindelfinger Herrenhof des Grafen Adalbert wurde nach Calw verlegt. Um 1050 wurde eine Burg erbaut und um 1256 die Stadt Calw gegründet. Die Herren nannten sich fortan Grafen von Calw.
Belegt ist, dass in Hirsau rechts der Nagold bis ca. 1070/75 ein Doppelkloster bestand. Nachdem es zu klein geworden war und auch immer wieder von der Nagold überschwemmt worden war, wurde 1082 auf der Anhöhe jenseits der Nagold das Benediktinerkloster St. Peter und Paul erbaut und die Gebeine des Heiligen Aurelius 1488 dorthin überführt. Im Zuge der Reformation wurden das Kloster und der Konvent 1536 aufgelöst. Die Herzöge von Württemberg erbauten darin ein Schloss und eine Schule. Das Schloss wurde 1692 im Pfälzer Erbfolgekrieg durch die Truppen Melacs zerstört. In seinen Mauern stand die durch das Gedicht von Ludwig Uhland berühmt gewordene „Ulme zu Hirsau“. 1989 musste sie wegen dem gefährlichen Ulmenpilz gefällt werden.
Martinskirche
Die Martinskirche wurde unter Graf Adalbert, genannt Atzimbart, um 1065 begonnen und über 70 Jahre mit mehreren Bau- und Stillstandsphasen fertiggestellt. An der südlichen Außenmauer des Langhauses steht die Jahreszahl 1083. Am 4. Juli, dem Jahrestag der Bischofsweihe des Heiligen Martin von Tours im Jahre 372, wurde der bis dahin schon fertig gestellte Teil geweiht. Dendrochronologische Untersuchungen des noch vollständig erhaltenen Dachstuhls zeigten jedoch, dass die Bäume dafür erst im Jahr 1131 geschlagen wurden.
Nach dem Tod Adalberts führte sein Sohn Gottfried den Kirchenbau zögerlich fort. Zu Ende gebaut wurde er bis 1135 von Herzog Welf VI. von Spoleto. Er hatte 1129 Gottfrieds Tochter und Alleinerbin Uta geheiratet. Die Form des Kirchenturms nach Art eines italienischen Campanile zeigt, dass Welf VI. mit dem Bau lombardische Architekten beauftragt hatte. Der Turm stand ursprünglich frei und wurde erst später mit dem Langhaus verbunden. An den Schießscharten kann man erkennen, dass er als Wehrturm gebaut wurde. Die romanischen Apsiden im Osten sehen stilistisch älter als das Langhaus aus. Sie wurden aber erst am 25. November 1100 von Bischof Gebhard von Konstanz geweiht.
Welf VI. starb im Dezember 1191. Nach dem Tod seiner Witwe Uta kam das Chorherrenstift in die Hände der Staufer, die es um 1200 den Pfalzgrafen von Tübingen als Lehen gaben. Wegen Misswirtschaft mussten diese im 14. Jahrhundert das Stift an Graf Eberhard II., „den Greiner und alten Rauschebart“ verkaufen. Er ließ es von einem Vogt verwalten.
Gerichtstüre mit Löwenkopf
Vor der Südwand stand einst die Michaelskapelle. Vermutlich war sie der Rest der Vorgängerkirche und wurde in den Bau der Martinskirche integriert. Die Türe trug einen Löwenkopf, der Christus, den „Löwen von Juda“, symbolisierte. Wer den Ring im Löwenmaul ergriff, genoss Kirchenasyl. Der Löwenkopf symbolisiert zugleich den Landesherren als obersten Gerichtsherren. Nach fränkischer Sitte tagte das weltliche Gericht im Freien, aber bei ungünstigem Wetter durfte es sich auch in der Vorhalle einer Kirche versammeln.
Ehemaliger Hochchor
Im Chorbereich fällt auf, dass die Basen der vier östlichen Pfeiler etwa 2.50 Meter über dem Boden des Langhauses liegen. Die Martinskirche hatte ursprünglich einen Hochchor. In ihm fanden die Gottesdienste und der Chorgesang der Geistlichen statt, hier befand sich der Hochaltar, das Sakramenthaus, der Bischofssitz und das Gestühl für die Chorherren. Und hier war auch der Eingang in die frühgotische Sakristei von 1270 und in den Turm. Von der steinernen Chorschranke, die den Chorbereich vom Bereich der Laien und der Bevölkerung trennte, sind noch geringe Reste vorhanden. Einen Lettner wie z.B. in der Stiftskirche in Tübingen hatte die Martinskirche nicht.
Unten im Kirchenschiff fanden die Gottesdienste für die Bewohner der umgebenden Siedlungen und für die Bürger der 1263 gegründeten Stadt Sindelfingen statt, die keine eigene Kirche besaß.
Vom Langhaus führten links und rechts zwei Treppen zum Hochchor hinauf. Dazwischen lag der Eingang in die etwa einen Meter tiefer liegende Krypta, die etwa ein Drittel der Kirchenfläche ausmachte. In ihr standen die Sarkophage der Pröpste und Chorherren und vielleicht auch von adeligen oder anderen hochrangigen Personen, die sich dieses Privileg mit ihren Stiftungen erworben hatten. An mehreren Altären mit Reliquien wurden für sie jedes Jahr Gedenkgottesdienste abgehalten.
Beispiel von Hochchören im Harz
Wie der Hochchor und die Krypta der Martinskirche einmal ausgesehen haben mögen, können wir am Beispiel von zwei romanischen Kirchen im Harz sehen, in denen sie erhalten geblieben sind.
In der Stiftskirche St. Cyriakus in Gernrode, die schon im 10. Jahrhundert errichtet wurde, führt eine breite Mitteltreppe vom Kirchenschiff zum Hochchor hinauf. Links und rechts davon führen zwei kleine Törchen in die kleine Ostkrypta mit einem niederen Gewölbe hinunter.
In der Stiftskirche St. Servatius in Quedlinburg, die wie die Martinskirche von den welfischen Herrscher durch lombardische Baumeister zwischen 1070 und 1129 errichtet wurde, führen zwei Seitentreppen zum Hochchor hinauf. Dazwischen liegt der Zugang zur ebenerdigen Krypta. Der Hochchor wurde bis 1320 im gotischen Stil umgebaut und in den 1930er Jahren nochmal stark verändert.
Hochchor in der Stiftskirche St. Cyriakus in Gernrode Bild: Archiv Hinderer |
Hochchor in der Stiftskirche St. Servatius in Quedlinburg Bild: Archiv Hinderer |
Ostkrypta unter der Stiftskirche St. Cyriakus in Gernrode Bild: Archiv Hinderer |
Vermutlich sahen der Hochchor und die Krypta in der Sindelfinger Martinskirche ähnlich aus. Der Chor lag etwa 2.50 Meter über dem Kirchenschiff. Etwa einen Meter unter der Ebene des Kirchenschiffs lag die Krypta mit einem Bogengewölbe. Sie war innen etwa 3.50 Meter hoch und wurde von kleinen romanischen Rundbogenfenstern erleuchtet. Von außerhalb der Kirche kann man diese kleinen Fenster gut erkennen, dazu ein Törchen, durch das die Pröpste und Chorherren direkt in die Krypta eintreten konnten. Der Hochchor wurde nach der Reformation um 1576 / 77 entfernt, die Krypta aufgefüllt und ihre Fenster und das Törchen zugemauert.
Der romanische Chor der Sindelfinger Martinskirche ist im weiten Umkreis der einzige, der in der Zeit der Spätgotik nicht umgebaut, erhöht und vergrößert wurde. Das wohlhabende Chorherrenstift besaß sicherlich die Mittel dafür, aber die Krypta war wohl der Grund dafür. Vielleicht wollte man die Totenruhe der darin bestatteten Personen nicht stören und die Grabplatten der Pröpste, die Reliquien sowie die Altäre der Stifter nicht entfernen.
Bistum Konstanz
Das Sindelfinger Chorherrenstift gehörte zum Bistum (Diözese) Konstanz. Die Grenze zwischen ihm und dem nördlich anschließenden Bistum Speyer verlief in unserer Gegend auf einer Linie südlich von Zavelstein, Stammheim, Gechingen, Weil der Stadt, Maichingen, Ditzingen und Schwieberdingen zum Hohen Asperg und weiter nach Osten. Die Orte Dachtel, Aidlingen, Sindelfingen“ Döffingen, Darmsheim, Dagersheim und Sindelfingen gehörten zum Bistum Konstanz.
Spätere Umbauten
Die Martinskirche wurde in der folgenden Zeit mehrfach umgestaltet. Für die zunehmende Bevölkerung wurden Emporen eingebaut und dafür Treppenzugänge von außen geschaffen. Der einst freistehende Turm wurde mit dem Kirchenschiff verbunden und mit einem spitzen Dach versehen, sodass er von weit her zu sehen ist. Der Verkauf auf Abbruch des ehemaligen Kloster Refektoriums und späteren großen Fruchtkastens an der Nordseite im Jahr 1861 gab dann den Anstoß zu einer großen Restaurierung und Umgestaltung durch den Architekten Friedrich von Leins. Dieser hatte am Stuttgarter Schlossplatz den Königsbau errichtet und für den Kronprinzen Karl und seine Ehefrau, die Großfürstin Olga von Russland, die Villa Berg erbaut.
Bei dieser Restaurierung wurden die rechteckigen Fenster der Seitenschiffe durch Rundbogenfenster ersetzt, die drei Chorfenster in den Apsiden vergrößert, die äußeren Treppen zu den Emporen wieder beseitigt und die Fenster im Obergaden wieder sichtbar. 1863 wurde die Michaelskapelle abgerissen und die Gerichtstüre mit dem Löwenkopf an den Westeingang versetzt. Der südliche Kircheneingang wurde aus Symmetriegründen einige Meter nach Osten versetzt und das Kircheninnere byzantinisch ornamentiert.
Auch im 20. Jahrhundert gab es mehrere Renovierungen, Sanierungen und Stabilisierungen des instabil gewordenen Kirchenschiffs. 1926 wurde der Außenputz entfernt und die wohlbehauenen Quader aus Stubensandstein freigelegt. Die flache Bohlendecke wurde mit den Symbolen der vier Evangelisten bemalt: Matthäus (Engel), Markus (Löwe), Lukas (Stier) und Johannes (Adler). Bei der letzten Renovierung 1973/74 wurde die Westempore eingebaut, der Putz an den Seitenschiffen entfernt und die Kirchenbänke durch Stühle ersetzt. Damit wurde Raum geschaffen für kirchliche und kulturelle Veranstaltungen in der „Leeren Kirche“. Genaueres über diese Umbauten findet man in der am Ende des Artikels zitierten Broschüre „Martinskirche Sindelfingen“.
Die Martinskirche heute
Dem Besucher stellt sich die Martinskirche dar als eine dreischiffige romanische Basilika mit einer zurückhaltenden aber sehr ansprechenden Architektur der Wände, des Chors mit seinen schönen Glasfenstern, der Pfeiler und ihrer Würfelkapitelle. Die aus wechselnden gelblichen und rötlichen Quadern gemauerten Bögen des Kirchenschiffs werden bei manchen Veranstaltungen durch eine milde Beleuchtung mit Kerzen um die Mittelpfeiler herum in ihrer Wirkung noch hervorgehoben und verleihen der Kirche eine außerordentliche Schönheit. Und die neue Außenbeleuchtung von 2018 mit LED Lampen hebt die Oberflächenstruktur der alten Steinquader wunderbar plastisch hervor.
1576 wurde über eine damals schon nicht mehr vorhandene, sehr beschädigte Orgel berichtet. Die heutige Weigle-Orgel über dem Westschiff mit 2868 Pfeifen wurde 1961 in Betrieb genommen. Zur 925 Jahrfeier 2008 wurde von Tilman Trefz eine Truhenorgel im Altarbereich geschaffen. Ihre Türen schmückt ein Glasbild des Künstlers Fritz Mühlenbeck aus Neuweiler.
In der Chronik des Chorherren Konrad von Wurmlingen wird von der Anschaffung zweier Glocken im Jahr 1284 berichtet, und um 1620 hingen vier Glocken im Turm. In den Kriegszeiten mussten immer Kirchenglocken abgeliefert werden und kamen danach nicht mehr zurück. Die heutigen 7 Kirchenglocken bilden ein sehr harmonisches und weithin hörbares Geläut. Die größte Glocke, die Christusglocke mit fast 5 Tonnen Gewicht, ist in A gestimmt. Sie wurde 1963 zur 700-Jahrfeier der Stadt von der Firma Bachert in Kochendorf gegossen. Die kleinste Glocke, das Schul- und Vesperglöcklein ist in D“ gestimmt und hat nur 40 Kg Gewicht. Sie wurde von 100 Sindelfinger Bürgern gestiftet und 1999 von der Firma Bachert in Karlsruhe gegossen. Sie hängt außerhalb des Kirchturmdachs in einem kleinen Vorbau.
Sindelfinger Münzschatz
Bei den Grabungen von 1973 wurde unter dem Kirchenboden ein wertvoller Schatz mit 945 Silbermünzen in einem Tontöpfchen geborgen. Diese wurden 1180 geschlagen und tragen das Prägezeichen S für Sindelfingen aus der Münzstätte von Welf VI. Vermutlich wurden die Münzen bei einem Überfall der Böblinger Pfalzgrafen versteckt.
Das Chorherrenstift
Das verlassene Kloster wurde 1066 in ein Chorherrenstift umgewandelt. Chorherren sind eine Vereinigung von Klerikern, die gemeinsam nach der Art der Mönche lebten („vita canonica“) aber als Weltgeistliche keine Gelübde ablegten. Sie rekrutierten sich vermutlich aus der Sindelfinger Oberschicht. Sie wohnten ursprünglich gemeinsam nahe der Kirche in Gebäuden, die abgegangen sind. Später wohnten sie in separaten Gebäuden, Chorherrenhäusern, wie z.B. das Gebäude Stiftstraße 2, Ecke Ziegelstraße. Um 1420 wurde vom Chorherr Heinrich Tegen auf die innere Mauer die Propstei aufgesetzt. Der Stiftsbezirk umfasste den Bereich vom Wurmbergviertel bis zum Klostersee und zur Ziegelstraße. Er war mit dem Bannzaun eingezäunt und hatte drei Tore: am Stäbenheck das Flickers Tor, an der Kreuzung der heutigen Graben- und Maichinger Straße das Zimmer Jakobs Tor und bei der Ziegelhütte auf der Ziegelstraße das Falltor. Weitere stiftseigene und zinspflichtige Häuser standen im Bereich der späteren Stadt.
Das Stift entwickelte sich bis ins 15. Jh. zu einem der bedeutendsten und wohlhabendsten in Württemberg. Ab 1442, nach der Teilung Württembergs in einen Stuttgarter und einen Uracher Teil, fiel ihm im Uracher Landesteil eine kirchliche Führungsposition zu. Es besaß den an die Stadt nördlich angrenzenden Stiftsbezirk sowie Gebiete in der Propstei und zu Hinterweil und im Eichholz. Die Kirchen zu Weilimdorf, Dilgshausen mit Leonberg, Darmsheim, Dagersheim, Tailfingen, Feuerbach, Neckartailfingen, Grötzingen, sowie Vaihingen a.d. Fildern waren dem Stift inkorporiert; d.h. ihre Einkünfte flossen an das Sindelfinger Stift. In über 30 Orten im Neckar-Schönbuch Gebiet verfügte das Stift zudem über Güter oder Einkünfte, u.a. in Böblingen Darmsheim, Vaihingen, Maichingen, Magstadt, Nufringen, Altingen, Deufringen, Ehningen, Holzgerlingen, Haslach, Grötzingen, Hirschlanden, Bönnigheim, Korntal, Feuerbach, Schlaitdorf u.a.m. Die Sindelfinger Chorherren genossen als Gelehrte einen außerordentlichen wissenschaftlichen Ruf. Sie verwalteten vornehmlich ihre reichen Pfründe und ließen die seelsorgerlichen Pflichten mehr und mehr von Kaplanen erledigen.
Verlegung nach Tübingen
Graf Eberhard V. „im Bart“ (ab 1495 Herzog Eberhard I., Sohn von Graf Ludwig I., ab 1475 verheiratet mit Barbara Gonzaga von Mantua) gab 1475 mit der Genehmigung von Papst Sixtus den Sindelfinger Chorherren den Auftrag, ihr Stift nach Tübingen zu verlegen.
Eberhards Mutter Mechthild, eine Pfalzgräfin bei Rhein (Kurpfalz), war eine sehr gebildete Frau. Sie war in Heidelberg geboren, wo ihre Vorfahren 1386 die älteste deutsche Universität, die Ruprecht-Karls-Universität gegründet hatten. Nach dem Tod ihres Mannes, bezog sie das Böblinger Schloss als Witwensitz. Zwei Jahre danach heiratete sie in zweiter Ehe den Erzherzog Albrecht VI.von Österreich, den Bruder des Kaisers Friedrich III. des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen. Als Schwägerin des Kaisers nahm sie jetzt einen hohen Rang ein, und nach dem Tod der Kaiserin Eleonore war sie sogar die Erste Frau im Reich. Mechthild bewog ihren Mann, in Freiburg eine Universität zu gründen, die „Albertina“, die heutige Albrecht-Ludwigs-Universität. Als ihr Mann bald darauf starb, nahm sie ihren Witwensitz im vorderösterreichischen Rottenburg und scharte einen Musenhof um sich.
Mechthild wurde bei der Heirat mit Graf Ludwig I. als Wittum (Witwengut) das gesamte Amt Böblingen und große Teile des Schönbuchs überschrieben. Nach ihrer Wiederheirat hätte sie das Wittum wieder zurückgeben müssen, aber ihr Sohn Eberhard schenkte es ihr. Er musste also seine Mutter bei der Verlegung des Stifts um Genehmigung bitten, und vielleicht war die Initiative zur Universitätsgründung sogar von ihr ausgegangen. Mit ihren vielen reichen Pfründen sollten die Sindelfinger Chorherren die Universität Tübingen gründen und ihr eine gesicherte materielle Grundlage geben. Der Sindelfinger Propst Johannes Degen wurde der erste Kanzler der Universität Tübingen und sein Chorherr Johannes Vergenhans ihr Rektor. Er gräzisierte später seinen Namen zu Nauklerus. Die Nauklerstraße in Tübingen erinnert an ihn.
Die Tübinger Universität erhielt den Namen Eberhard – Universität. Sein Leitspruch „attempto“ („ich wag’s“) steht über dem Eingang der Alten Aula. Herzog Carl Eugen fügte später dem Namen der Universität seinen Namen hinzu. Seitdem heißt sie Eberhard-Karl-Universität. Die Einnahmen aus den Sindelfinger Pfründen wurden im Stiftskeller, dem heutigen Storchenhaus, sowie in der – im Krieg zerstörten – Stiftszehntscheuer am Oberen Tor verwaltet und gelagert.
Das Steinrelief zur Gründung des Augustinerklosters in Sindelfingen und die Bronze-Replik
von Klaus Philippscheck und Dr. Alfred Hinderer
Die romanische Martinskirche in Sindelfingen birgt ein Kleinod, das für die Geschichte des Stiftsviertels und darüber hinaus für die unseres Landes von großer Bedeutung ist und bis in unsere Zeit hinein wirkt. Es ist ein großes Weiherelief aus dem Jahr 1477, das in der Nordwestecke der Kirche eingemauert ist. Auch in seiner künstlerischen Qualität ist es so bedeutsam, dass es eine eingehende Betrachtung wert ist.
Die erste Erwähnung des Reliefs finden wir in einer kleinen, 24-seitigen „Chronik der Stadt und des Stifts Sindelfingen“ aus dem Jahre 1834, die von dem aus Sindelfingen stammenden Pfarrer Ottmar Schönhuth verfasst wurde. Bei ihm wird das Relief „das einzige noch wohl erhaltene Denkmal aus der Zeit der Verlegung des Stifts“ genannt. Außerdem gibt er einen Hinweis, der lange Zeit nicht beachtet wurde, nämlich: es „befindet sich am Eingang in den früheren Klosterhof.“
Collage, die die ursprüngliche Situation am Klostereingang darzustellen versucht Collage: Klaus Philippscheck |
Noch genauer werden wir von der „Beschreibung des Oberamts Böblingen“ aus dem Jahre 1850 informiert, die den Ort der „Gedächtnißtafel“ mit den Worten Schönhuths wiederholt, andererseits aber auch das Werk als „erhabene Arbeit“ bewertet. Dass dies nicht überraschend ist, wird deutlich, wenn man sein historisches Umfeld und seine Funktion untersucht.
Die erwähnte Oberamtsbeschreibung formuliert so: „Als Graf Eberhard im Bart in Tübingen eine Universität gründen wollte, erhielt er auf seine Bitte von Papst Sixtus IV. die Erlaubniß 8 Canonicate sammt der Propstei und 8 Caplaneipfründen und zwei Drittheile des Stifts für diesen Zweck zu verwenden, und verlegte im Jahre 1476 das Stift nach Tübingen. In Sindelfingen errichtete er mit einigen wenigen Abfällen des alten stiftischen Besitzes, statt des frühern weltlichen, ein regulirtes Chorherrnstift, welches er und seine Mutter Mechtild den 1. August 1477 von Frohndiensten, Atzung und Steuern freiten…“
Hiermit werden mehrere wichtige Aspekte angesprochen. Da ist die kulturhistorisch enorm bedeutsame Gründung einer neuen Universität in der relativ kleinen Grafschaft Württemberg-Urach durch Graf Eberhard und seine Mutter Mechthild, die inzwischen wieder verwitwete Erzherzogin von Österreich, die im damals vorderösterreichischen Rottenburg am Neckar ihren Witwensitz bezogen hatte. Nach dem Tod ihres ersten Ehemannes, Graf Ludwig von Württemberg, hatte sie in einer zweiten Ehe im Jahr 1452 den Erzherzog Albrecht VI. von Österreich geheiratet, den Bruder von Kaiser Friedrich III. Die Gründung der Universität war wohl vorbereitet worden, unter anderem durch Reisen des Sindelfinger Chorherrn Johannes Vergenhans zum Papst nach Rom. Johannes Vergenhans, der sich später Johannes Nauclerus nannte, war der Erzieher und Vertraute des jungen Grafen Eberhard und war später Professor an der Universität Basel. Er hatte einige Zeit in Italien verbracht und war auch bei der päpstlichen Kammer in Rom. Dies hatte die Zustimmung des Papstes zur Gründung der Universität erleichtert, was nicht bei allen Universitätsgründungen der damaligen Zeit der Fall war.
Der Papst ließ auch jetzt im späten Mittelalter nicht zu, dass eine kirchliche Einrichtung einfach aufgegeben wurde. Deshalb musste Eberhard an derselben Stelle eine Nachfolgerin des weltlichen Sindelfinger Stifts einsetzen. Er entschied sich für ein reguliertes (klosterähnliches) Augustiner-Chorherrenstift und holte dazu eine im Württembergischen völlig fremde Institution her, die Windsheimer Kongregation aus dem niederrheinischen Bistum Utrecht. Sie war eine sehr strenge Kongregation, die dem Armutsideal „in der Nachfolge Christi“ verpflichtet war. Genau dieser Aspekt war dem Grafen Eberhard – dem der Zustand der Kirche massiv missfiel – wichtig für sein Ziel einer württembergischen Kirchenreform. Für die Sindelfinger Umgebung bedeutete dies natürlich einen tiefen Bruch.
Darum wird verständlich, dass mit der Erzherzogin Mechthild von Österreich und Graf Eberhard die zwei wichtigsten Persönlichkeiten der Grafschaft Württemberg-Urach auf dem Relief vertreten waren – und warum es von hoher künstlerischer und handwerklicher Güte sein sollte. Auch heute noch staunt der Betrachter über die Qualität der beiden Stifterfiguren und besonders der zentralen Christusfigur, die als typisch spätgotisch gestalteter Schmerzensmann ihre Wunden zeigt und mit der Präsentation ihres Leidens auf die unabwendbare Endlichkeit allen Lebens und Strebens verweist, auch des Lebens der hochgestellten Stifter dieses Reliefs. Ein typisch spätgotisches Andachtsbild also.
Mit dem Text der Steintafel in lateinischer Sprache wird der göttliche Segen für das neue Augustiner-Stift erfleht, das jetzt in die Gebäude des vorherigen Chorherrenstifts eingezogen war. Jeder, der dieses neue Kloster betrat, sollte das Relief gleich über dem Eingangsbereich sehen. Dort war es bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Hitze, Frost und Regen ausgesetzt. Die Farbe ging fast völlig verloren, und die Christusfigur verlor beide Unterarme. Abgesehen davon ist es aber erstaunlich gut erhalten.
Nach 400 Jahren im Freien wurde das Relief in die schützende Kirche geholt und an die innere südliche Chorwand versetzt – vermutlich bei der Renovierung und einem Umbau der Kirche von 1862 bis 1866 durch den Stuttgarter Architekten Christian Friedrich Leins. Heute befindet es sich in der nordwestlichen Ecke des Langhauses unter der Orgelempore – ein etwas abseits gelegene Stelle, die im Mittelalter der theologischen und der politischen Bedeutung des Werks niemals angemessen gewesen wäre. Eine brennende Kerze beleuchtet heute diesen Ort und schafft eine ruhige Andachtsecke.
Beschreibung des Reliefs
Eine Beschreibung des Reliefs mit dem Titel „Das Erinnerungs-Relief in der Stiftskirche St. Martin in Sindelfingen“ von Dr. Gerhard Betsch steht im Portal „Zeitreise-BB“ des Landkreises Böblingen. Zu finden ist der Aufsatz unter dem Link: https://zeitreise-bb.de/relief_martin/
Hier ein Ausschnitt:
„Auf dem Relief sind drei Figuren dargestellt, die unterschiedlich groß und in bemerkenswerter Stellung gezeigt werden. Die zentrale Figur ist ein Christus, der nur mit einem Lendentuch bekleidet ist. Er trägt die Dornenkrone. Sein Haupt umgibt ein Nimbus, ein Heiligenschein. Seine Wunden sind deutlich sichtbar. ..Der Sindelfinger Christus hat die Arme segnend erhoben. Leider sind die Unterarme weggebrochen.
Zur Rechten und zur Linken des Christus knien zwei Figuren in anbetender Haltung: links eine weibliche Gestalt, die nach ihrer Kopfhaube eine verheiratete Frau oder Witwe sein muss; rechts ein Ritter in der Rüstung. Beiden Figuren sind ihre Wappen beigegeben. Das Wappen der Frau zeigt den Bindeschild Österreichs, den Pfälzer Löwen, und die bayerischen Rauten. Das Wappen des Ritters zeigt die Hirschstangen der Württemberger und die Mömpelgarder Barben. Man kann die Frage stellen, ob die Plastik farbig gefasst war. Farben hätten die Wappen deutlicher hervortreten lassen. Die Unterschrift identifiziert die beiden Figuren als Erzherzogin Mechthild von Österreich und Graf Eberhard von Württemberg und Mömpelgard (französisch: Montbéliard).
Das Relief stellt natürlich Christus auf ein Podest und damit erhöht in die Mitte. Die Plastik und die Unterschrift sind darauf abgestimmt, den höheren Rang der Erzherzogin gegenüber dem Grafen herauszustellen: Die Erzherzogin – als „illustrissima domina“ bezeichnet – kniet zur liturgisch Rechten des Christus (maßgeblich ist die Blickrichtung der Christusfigur); die Bildebene ist leicht gedreht, sodass die Erzherzogin dem Betrachter näher erscheint. Der Graf ist, obwohl Sohn der Erzherzogin, dem Range nach deutlich unter der Erzherzogin einzuordnen. Er ist nur „illustris“ und kniet zur liturgisch Linken Christi.
Dem kundigen Betrachter am Endes 15. Jahrhunderts – in einer ständisch gegliederten Gesellschaft lebend – waren diese feinen Andeutungen unmittelbar verständlich und die Wappen wahrscheinlich vertraut.
Die Inschrift lautet:
Illustrissima D[omi]na Mechtildis nata Palatina Reni ac Archiducissa Austrie et illustris Eberhardus Comes de Wirtemberg et eiusdem filius huius sacri cenobij post prioris collegii translatione[m] ad Tubinge[n] restauratores atque canonice recte instauratores anno domini M CCCC LXXVII
Zu deutsch:
Die hochedle Herrin Mechthild, eine geborene Pfalzgräfin bei Rhein und Erzherzogin von Österreich, und der edle Eberhard Graf von Württemberg, deren Sohn, [waren] – nachdem das vorherige Collegium nach Tübingen verlegt worden war – die Restauratoren dieses heiligen Chorherrenstifts und nach kanonischem Recht dessen Gründer im Jahr des Herrn 1477.“
Das Sandsteinrelief in der Martinskirche Bild: Alfred Hinderer |
Die bronzene Replik im inneren Klostergarten
Klaus Philippscheck hatte die Idee, eine bronzene Replik des Sandsteinreliefs in der ursprünglichen Umgebung aufzustellen. Damit würden der Anlass und die Umstände der für Sindelfingen fast traumatischen Verlegung des weltlichen Stifts, das so viele hoch angesehene, berühmte Chorherren mit Sindelfingen in Zusammenhang gebracht hatte, wieder neu thematisiert werden. Dafür konnten geschichtsbewusste und treue Sponsoren gewonnen werden. Die Kosten wurden durch die Initiative „Kultur am Stift“, die Stadt Sindelfingen, die Bürgerstiftung Sindelfingen sowie durch die Schaufler Foundation, eine großzügige anonyme Spenderin und weitere Spender zusammengebracht.
Herr Rüdiger Fürstenberger organisierte Spezialisten, die das originale Relief einscannten. „Aus dem Datensatz formten die Firma Voxeljet in Friedberg bei Augsburg und der 3-D-Drucker das Modell für die Gießerei. Schicht um Schicht sprühte der Drucker rund 36 Stunden lang ein Gemisch aus Sand und Kunstharz auf, bis die um die Hälfte verkleinerte Kopie fertig war. …“
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Konturen sind scharf und exakt. „Wir haben das Ganze noch ein wenig nachgearbeitet“, sagt Peter Mühlhäußer von der Kunstgießerei Strassacker. Die Süßener sind anerkannte Spezialisten“ (Zitate aus den Artikeln in der SZBZ „Spätgotik aus dem 3-D-Drucker“ von Hansjörg Jung vom 22. Juli 2019 und „Mechthilds Sprung ins Licht der Gegenwart“ von Bernd Heiden vom 25. Juli 2019).
Die Bronzereplik wurde am 23. Juli 2019 nach einer Begrüßungsrede des Herrn Pfarrer Jens Junginger und nach einer aufwändigen szenischen Lesung der Gruppe „Kultur am Stift“ durch die Herren Klaus Philippscheck (Kultur am Stift), Horst Zecha (Leiter des Kulturamts der Stadt Sindelfingen), Peter Mühlhäußer (Firma Strassacker) und Rüdiger Fürstenberger (Bürgerstiftung Sindelfingen) im Rahmen der Biennale feierlich enthüllt.
Die Bronze-Replik im inneren Klosterhof Bild: Archiv Hinderer |
Eine ergänzte und bemalte Collage Bild: Klaus Philippscheck |
Das Augustinerkloster
Papst Pius II. hatte Graf Eberhard V. gestattet, sämtliche klösterliche Einrichtungen in seinem Herrschaftsbereich zu reformieren. Er holte Augustiner Chorherren der besonders strengen Windesheimer Kongregation in das neu zu gründende Kloster, denen er nahestand.
In Sindelfingen waren nach der Verlegung des Chorherrenstifts die Martinskirche und die Stiftsgebäude vorhanden. Die noch verbliebenen Pfründe reichten immer noch gut aus, ein neues Kloster zu unterhalten. Auch ließen die Chorherren des Tübinger Stifts ihre Pfründe und den daraus entstandenen geistlichen Verpflichtungen von den verbliebenen Sindelfinger Chorherren erledigen.
Um 1517 wurde zwischen die Martinskirche und die Propstei ein neuer Gebäudeteil erbaut, der als Bibliothek der Stiftsherren bezeichnet wurde. Damit wurde der Westeingang, der in einer Kirche der wichtige Prozessionseingang ist, stark eingeengt und auf einen teilweise unter der Klosterbibliothek gelegenen schmalen Gang reduziert.
1605 wurde hinter der Martinskirche der Kleine Fruchtkasten erbaut. Östlich davon entstand in der Klosterzeit das „Refental (Refektorium = Speisesaal) und der Stiftsherren Behausung“ und hinter der Martinskirche ein Kreuzgang. Um 1620 entstand die Geistliche Verwaltung, in der die Einkünfte der kirchlichen Pfründe und Bruderschaftsvermögen verwaltet wurden. Der ganze Klosterbezirk war von einer umlaufenden Mauer mit drei Toren umschlossen. Entlang der Seestraße und der Oberen Vorstadt sind Teile davon erhalten. Von den drei Toren zum Klosterbezirk in das kleine Törchen an der Seestraße erhalten geblieben.
Aufhebung des Klosters in der Reformation
Das Augustinerkloster bestand bis zur Säkularisierung 1536, als im Zuge der Reformation viele Klöster im Land aufgelöst wurden (z.B. Hirsau, Maulbronn, Alpirsbach).
Das Refental wurde danach in den großen Fruchtkasten der Stadt mit 6 Böden (Lagerbuch von 1590) umgewandelt und um 1860 abgebrochen.
Im vermuteten Kreuzgang nördlich der Martinskirche wurden 1973 bei archäologischen Untersuchungen 16 Bestattungen nachgewiesen.
Eugen Schempp, „Der Sindelfinger Stiftsbezirk im 15. Jahrhundert“
Sindelfinger Jahrbuch 16, 1974, Seite 249-292
Erhaltene Gebäude
Zu den noch erhaltenen Gebäuden gehören die an die Martinskirche angebaute Bibliothek, die Propstei und die Gebäude der geistlichen Verwaltung. Ihre Nutzungen und ihre Namen wurden über die Zeit verändert und sind nicht mehr völlig nachvollziehbar. Vom ehemaligen kleinen Fruchtkasten steht nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg nur noch der Kellerhals. Daneben liegt der 17 Meter tiefe, rund gemauerte Brunnen aus der Klosterzeit um 1500.
Das Haus der Geistlichen Verwaltung war vom Anfang des 19. Jahrhunderts in privater Hand. 1963 wurde das Fachwerk freigelegt. 1970 hat es die Stadt erworben und zum „Haus der Familie“ umgebaut.
Die Propstei, Obere Vorstadt 8, von 1420, ist eines der ältesten Sindelfinger Häuser und zeigt an Süd- und Ostseite mittelalterliches Fachwerk. Dieses unterscheidet sich vom späteren Fachwerk durch eine andere Art der Versteifung des Hausgerüstes („Verblattung“). Die schräg verlaufenden Hölzer sind nur etwa ein Drittel so stark wie die senkrechten und waagrechten und sind von außen in entsprechende Aussparungen eingelassen. Diese Bauweise wurde bis etwa 1500 angewendet und von Herzog Christoph verboten. In Sindelfingen kann sie noch an über 20 weiteren Häusern festgestellt werden.
Kein hiesiges Gebäude hat im Laufe der Jahrhunderte eine so mannigfaltige Nutzung erfahren. Erbaut wurde es von Magister Heinrich Tegen, Doktor des Kirchenrechtes an der Universität Bologna, vermutlich als Chorherrenhaus. Später war es Propstei des altes Stiftes, 1477 Sitz des Priors, später zusammen mit der Klosterbibliothek Wohnung des Schultheißen, des Vogts und des Oberamtmannes, Sitz des Kameralamtes bzw. Finanzamtes und schließlich des Staatlichen Schulamtes. Nach dem Rathausbrand von 1948 beherbergte es außerdem den Hauptteil der Stadtverwaltung und später für mehrere Jahre die Außenstelle des Staatlichen Vermessungsamtes.
Zum Stift gehörten zahlreiche weitere Gebäude an der Oberen Vorstadt und im ehemaligen Wurmbergviertel, das dem Bau des Warenhauses DOMO weichen musste. Auch das Haus Stiftstraße 2, der Chorherrenpfründhof, blieb erhalten. An der See – Gasse, heute Stiftstraße, stand von 1664 bis etwa 1905 das Helferhaus (Zweiter Stadtpfarrer) mit einer Scheune. Seine Außenmauer ist noch in der Klostermauer sichtbar. Im Inneren des Klostergartens wurde nach dem Krieg eine Grundschule und ein Kindergarten erreichtet. Hier sind keine Spuren der Vergangenheit mehr zu finden.
Gebäude im und um den Stiftsbezirk
Der Gasthof Zum Hirsch
Das Gelände, auf dem der Gasthof Hirsch steht, gehörte dem Stift. 1456 wurde es vom Propst und Kapitel an den Chorherren Konrad Widmann aus Dagersheim verkauft. Das Vorkaufsrecht verblieb aber beim Stift und war vom sog. Frongeld – einer Abgabe an die Herrschaft aus jedem Haus „darin Rauch hält“ – befreit. Im Jahr 1580 besaß es Thomas Grieb (1545-1609), der Stammvater einer bis heute wohl bekannten Sindelfinger Familie. Im Gebäudeprotokoll von 1719 ist es als Hirsch im Mitbesitz der Witwe von Johann Jakob Schmidt (1661-1711).
Das heutige Gebäude ließ um 1803 der Hirschwirt Johann Jakob Mayer (1767-1815) erbauen. Als einer der ersten Gasthöfe der Stadt ist der Hirsch gegen 1900 von der Familie Uhland und dann mehrere Jahrzehnte von August Seeger geführt worden. August Seeger war Vorstand des Turnvereins. Unter den ehemaligen Nebengebäuden neben dem Gasthof ist bis heute ein großer Bierkeller der ehemaligen Brauerei erhalten. Er diente nach dem Krieg als beliebter Partykeller, ist aber heute aus Sicherheitsgründen nicht mehr öffentlich zugänglich.
Hier im Gasthof Hirsch wurde am 28. Dezember 1913 der Schwarzwaldverein Sindelfingen als Bezirksverein des Württembergischen Schwarzwaldvereins gegründet. Gründungsväter waren der Stadtschultheiß Wilhelm Hörmann, der Sattler Karl Ganzhorn und 8 weitere bekannte Sindelfinger, darunter der Hirschwirt August Seeger und der Gaswerksverwalter Schaarschmidt.
Die Alte Realschule
Vor 1790 standen auf der Fläche der späteren Alten Realschule im östlichen Bereich die deutsche und die lateinische Schule. Sie lassen sich bis zur ältesten Sindelfinger Schule zurückverfolgen, die schon vor 1395 nachweisbar ist und im Mittelalter zum Stift gehörte. Im westlichen Bereich standen zwei Wohnhäuser. Weiter nach Westen schloss sich daran die Brotlaube an, die um 1600 erbaut worden war und bis 1841 bestand. In ihr hatten die Bäcker Verkaufsbänke für ihre Waren.
Das jetzige Schulgebäude entstand am Ende des 18. Jahrhunderts als „deutsche, lateinische und Mägdleinschule“. Ab 1897 beherbergte es eine sechsklassige Realschule. Hier haben die Sindelfinger Realschüler, spätere Ingenieure, Beamte, Betriebs- und Abteilungsleiter der Industriebetriebe die Schulbank gedrückt. Um 1940 wurde die Alte Realschule in das 1929 erbaute Goldberggymnasium überführt.
Noch um 1980 bestand für diese beiden historischen, aber ziemlich verwahrlosten und baufällig gewordenen Gebäude die Gefahr des Abrisses. Hier war sogar eine Tiefgarage geplant, die aber wegen dann drohender Einsturzgefahr der Martinskirche nicht realisiert wurde. Eugen Schempp und der Arbeitskreis „Freunde der Sindelfinger Altstadt“ wandten sich an die Öffentlichkeit und setzte sich, auch mit Unterstützung der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde, intensiv für die Erhaltung des Ensembles um den Stiftsbezirk ein. Die Lösung bahnte sich an, als für den Neubau des Gemeindezentrums ein Platz an der Stiftstraße gefunden wurde. Aus der Alten Realschule wurde das Bürgerhaus.
Das Haus Wergo (später Haus Hagenlocher)
Im Jahr 1830 ließ sich in Sindelfingen ein Mann mit einem ungewöhnlichen Namen nieder: Panagiot Wergo junior (1802 – 1886). Er war in Stuttgart geboren und aufgewachsen. Sein Vater, Panagiot Wergo senior, stammte aus Konstantinopel und war Sohn eines Kaufmanns. In Wien lernte er die Tochter eines Hofgärtners in württembergischen Diensten kennen und heiratete sie. In Stuttgart versuchte er einen Handel mit roher Baumwolle und türkischen Garnen, damals sehr begehrte Waren. Er bemühte sich um das Untertanenrecht, das ihm 1798 endlich gewährt wurde, und trat dem lutherischen Glauben bei. Das Geschäft entwickelte sich mit der Zeit sehr positiv. Nachdem seine erste Frau starb, heiratete Panagiot Wergo 1800 ein zweites Mal. Seine zweite Frau, Charlotte Feuerlein, Tochter des Regierungsrats Carl Feuerlein, entstammte der württembergischen Oberschicht.
1802 wurde der Sohn Panagiot junior geboren und wuchs in Cannstatt in einem großen Landhaus am Neckar auf. Ab 1806 betrieb der Vater eine eigene Fabrik für Türkischrot-Garne. Dies war die erste ihrer Art in der Region. Die Garne waren in Deutschland und dem Ausland sehr begehrt. Aufgrund politischer Umwälzungen musste Wergo 1824 die Fabrik aufgeben, betrieb aber weiterhin in der Calwer Straße in Stuttgart eine Großhandlung. In seinem Haus trafen sich Dichter und Denker wie Justinus Kerner, Ludwig Uhland, Gustav Schwab und Friedrich Hölderlin. Die sogenannten Panhellenen waren fasziniert von der deutsch-griechischen Familie.
Panagiot Junior verlor mit 16 Jahren seine Mutter bei der Geburt der jüngsten Tochter. Als ältester Sohn führte er die Tradition der Familie fort und erlernte den Beruf des Kaufmanns. Nach einer Lehre im Indigo-Handel in Stuttgart bei seinem Onkel Carl Feuerlein begab er sich in die Schweiz und nach Straßburg zur weiteren Ausbildung. Im Jahr 1830 erwarb er das Haus Obere Vorstadt 2 und ließ sich in der Stadt nieder. Im Bürgerbuch wird er als „Kaufmann und Conditor“ geführt. Er scheint mit seiner Frau Mathilde Fink, Tochter des Amtsnotars, ein gutes Auskommen mit seinem Geschäft gehabt zu haben. Das Gewerbekataster verzeichnet den Handel mit Garn, Farben, „Porcellan“, Glas und „Specereien“ (Gewürzen).
1834 wurde ihr Sohn Wilhelm geboren. Der machte eine Ausbildung in Genf, Paris und Italien. 1855 ging er in die Vereinigten Staaten, nach Kanada und Kuba. Er arbeitete als Drogist und Apotheker. 1863 erwarb er das amerikanische Bürgerrecht und war im amerikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Nordstaaten als Feldapotheker tätig. 1863 kehrte er nach Sindelfingen zurück und übernahm das elterliche Geschäft. Der Vater Panagiot junior verstarb mit 84 Jahren. Auf dem Alten Friedhof in Sindelfingen befinden sich noch Grabsteine der Nachfahren.
Leider hat sich kein Porträt von Panagiot Wergo erhalten., und auch die Unterlagen und Dokumente, die für eine Familiengenealogie bereits zusammengetragen waren, sind im Zweiten Weltkrieg in Stuttgart zerstört worden.
(Aus: „750 Jahre Stadt Sindelfingen, 1263 – 2013 Facetten einer Stadt“, Seite 56-57)
Klostersee und Seemühle
Der „Herrschaftliche See“, später als Klostersee bezeichnete See unterhalb des Stiftsbezirks gehörte nie zum Kloster, sondern war bis 1741 im Besitz der Herrschaft Württemberg und dann im Privatbesitz des Seemüllers. Am östlichen Ufer stand bis um 1970 seine Seemühle. In den 1920er Jahren betrieb die Firma Kienle die Seemühle. Im Sommer war dort die Badeanstalt geöffnet, und im Winter wurde Eis für die Brauereien gewonnen. 1958 erwarb die Stadt den See und die Mühle. 1976 wurde das Mühlengebäude abgerissen und an seiner Stelle für die Landesgartenschau 1990 eine hübsche Parkanlage mit zahlreichen japanischen Kirschbäumen geschaffen.
Armesünderfriedhof
Bis 1517 wurden die Verstorbenen auf dem Friedhof an der Martinskirche begraben. Als er zu klein wurde, richtete man außerhalb des Bannzauns am Ende des See-Gässles bei der Frauenkapelle am Klostersee einen neuen Friedhof ein.
Dann kam die Pest, und auch dieser Friedhof wurde zu klein. 1594 begann man den heutigen „Alten Friedhof“ zu bauen. Der Friedhof am Klostersee wurde danach als „Arme-Sünder-Friedhof“ weiter benutzt. Hier wurden Ausgestoßene, also Kriminelle und Selbstmörder, verscharrt, z.B. eine Frau, die ihr uneheliches Kind umgebracht hatte und selbst ertränkt wurde. Auch nicht getaufte Säuglinge, die nach damaligen Glauben als Heiden für ewig in einer Spezialhölle schmoren mussten, erhielten nicht die Gnade eines christlichen Begräbnisses.
Am Rest der Friedhofsmauer ist heute eine Tafel angebracht und der Ort als kleiner Park gestaltet. 2014 wurden für das Projekt „Poetische Orte“ zwei farbige Glasstelen des Künstlers Fritz Mühlenbeck aus Weil im Schönbuch – Neuweiler aufgestellt.
Das damalige See-Gässle endete am Armesünderfriedhof. Beim Bau der Wilhelm-Hörmann-Straße wurde sie – die heutige Stiftstraße – auf einem Straßendamm durch den Klostersee zum Herrenwäldlesberg hin verlängert. Der nördliche Seeteil wurde damals zugeschüttet und erst zur Landesgartenschau 1990 wieder ausgegraben.
Literaturhinweise (Auswahl):
„Sindelfingen und seine Altstadt – ein verborgener Schatz“, 2013
Herausgeber: Horst Zecha, Kulturamt der Stadt Sindelfingen, ISBN 978-3-00-041492-3, 503 Seiten
„750 Jahre Stadt Sindelfingen, 1263 – 2013 Facetten einer Stadt“
Begleitbuch zur Ausstellung im Stadtmuseum Sindelfingen
„Martinskirche Sindelfingen“
Herausgeber: Martinsgemeinde Sindelfingen, 2013, 103 Seiten