Das Stuttgarter Hospitalviertel und die Synagoge
Dr. Alfred Hinderer
Dieses Stadtquartier liegt nördlich der Königstraße zwischen der Friedrichstraße, der Theodor-Heuss-Straße, dem Rotebühlplatz und der Schloßstraße. Es wurde im Krieg völlig zerstört und danach durch den Durchbruch der Roten Straße, heute Theodor-Heuss-Straße, zu einer vierspurigen Stadtautobahn zerschnitten. Wer es ohne Vorbereitung besucht, sieht den modernen Hospitalhof mit dem restaurierten Chor der alten Hospitalkirche, das markante Landesgewerbeamt und noch ein paar wieder aufgebaute historische Gebäude und ansonsten viele gesichtslose Bürogebäude aus der Nachkriegszeit. Wer sich jedoch tiefer mit ihm beschäftigt und genauer hinschaut, erkennt bald, dass dieses Viertel ein bedeutendes geistliches, geistiges und kulturelles Leben und eine große Vielfalt besitzt. In den letzten Jahren wurde das Quartier städtebaulich aufgewertet, und seit der Befreiung vom Auto- und Parkverkehr lädt eine schön gestaltete Fußgängerzone um den Hospitalplatz zum Verweilen und Erforschen ein.
Die Entstehung des Hospitalviertels
Das mittelalterliche innere Stuttgart lag im Oval zwischen dem Alten Schloss, dem Großen Graben – der heutigen Königstraße – und dem Kleinen oder Krummen Graben – der heutigen Eberhardstraße. Die Stadt war von einer Mauer mit Türmen und Toren und von einem tiefen Stadtgraben mit einem breiten Wall ringsum geschützt.
Als es im 14. Jahrhundert in der inneren Stadt zu eng wurde, wurde im Süden die Leonhardsvorstadt mit der Leonhardskirche als geistlichem Zentrum erbaut und mit einer weiteren Mauer geschützt.
Im 15. Jahrhundert reichte auch dieser Platz nicht mehr aus. Nördlich der inneren Stadt entstand eine weitere Vorstadt. Hier hatten die württ. Grafen einen Turnieracker für Ritterspiele angelegt. Vor ihm lagen drei künstliche Seen, die zum Schutz der Stadt aber auch auf Wunsch der Gräfinnen aus Norditalien angelegt worden waren und vom Vogelsangbach gespeist wurden. Dieses Areal wurde jetzt bebaut und mit einer Stadtmauer mit mehreren Toren geschützt. Eine kleine Marienkapelle wurde ihr geistiges Zentrum und gab der Turnierackervorstadt den Namen „Unserer lieben Frauen Vorstadt“.
Die neuen Straßen wurden schachbrettartig angelegt. Vom Großen Graben führte die neue Büchsenstraße nach Norden zum Büchsentor, einem prachtvollen Renaissancetor. Der Name der Straße und des Tors stammte von einem Schützenhaus der Büchsenmacherzunft, das vor dem Tor stand. Die Baugrundstücke waren großzügig bemessen und hatten schöne Gärten in den Innenbereichen. Das zog Adelige und wohlhabende Bürger an. Im 17. Jahrhundert nannte man sie deshalb die „Reiche Vorstadt“. In alten Unterlagen findet man hier einen Hofrat, einen Professor, einen Prälaten, einen Hofschauspieler und viele Adelige wie „von Thumb“, „von Gemmingen“ und „von Wimpfen“. Viele Jahre noch gab es im Quartier auch noch Wiesen und Gartenflächen. Erst weit im 19. Jahrhundert war die neue Vorstadt völlig bebaut.
Das Dominikanerkloster und das Hospital
Von 1442 bis 1482 war Württemberg durch den Nürtinger Vertrag geteilt in den Uracher Teil unter Graf Ludwig I. und in den Stuttgarter Teil unter seinem Bruder Graf Ulrich V. Anstelle der Marienkapelle ließ er eine neue Kirche „Unserer lieben Frau und dem heiligen Ulrich“ erbauen. Den Turm errichtete 1473 Aberlin Jörg, der auch die Leonhardskirche gebaut hatte, das Langhaus errichtete 1493 der Baumeister Conrad von Gundelsheim. Dazu stiftete Graf Ulrich ein Dominikanerkloster mit Wohngebäuden für die Ordensbrüder und einem Kreuzgang. Die Dominikaner waren wegen ihrer Bildung hochgeschätzt und genossen einen ausgezeichneten Ruf als Prediger und Seelsorger. Das Kloster war das einzige, das württ. Grafen und Herzöge jemals stifteten.
Weil Graf Ulrich leutselig war, gab man ihm den Beinamen „der Vielgeliebte“. In seinem privaten und politischen Handeln war er aber unreif, ungezügelt und häufig gewalttätig. Als sein treuer Stallmeister Hans von Hutten die Liaison Ulrichs mit seiner Frau Ursula nicht mehr länger dulden wollte, erstach dieser seinen treuen und arglosen Diener bei der Jagd im Schönbuch.
Um seine Kriegszüge und seine aufwändige Hofhaltung zu finanzieren, erhöhte Ulrich 1514 die Verbrauchssteuern auf Fleisch, Wein und Getreide und brachte damit die arme Bevölkerung gegen sich auf. Als er 1519 die Reichsstadt Reutlingen überfiel, vertrieb ihn der Schwäbische Bund aus dem Land. Erst 1534 konnte er zurückkehren und führte danach die Reformation in Württemberg ein.
In ihrer Folge wurde 1536 nach nur 60 Jahren das Dominikanerkloster aufgehoben und seine Gebäude der Stadt zur Nutzung übergeben. Sie richtete darin das Bürgerhospital ein. Die Klosterkirche, jetzt Hospitalkirche genannt, wurde ein evangelisches Gotteshaus, und die „Reiche Vorstadt“ erhielt den Namen „Hospitalviertel“.
Als 1894 die Stadt in der Tunzhofer Vorstadt – nahe dem heutigen Pragfriedhof – einen Krankenhausneubau errichtete, wurde der Hospitalhof frei und für die Stadtpolizei ausgebaut. Hier, in der sog. „Büchsenschmiere“, wurden im Dritten Reich unsägliche Quälereien verübt an hunderten von politischen und ideologischen Gegnern, die hier inhaftiert waren. Die Häftlinge wurden von hier zu Verhören ins berüchtigte Hotel Silber hinübergebracht, wo sich im Keller Zellen für die Unterbringung vor und zwischen den Verhören befanden. Auch dort wurden die Häftlinge brutal misshandelt. Eine Gedenktafel erinnert daran.
Die Schultradition
Der Herzog-Administrator Friedrich Karl von Württemberg, Großvater von Herzog Carl Eugen, ließ 1685 anstelle des ehemaligen Beginenhauses an der Gymnasiumstr. 3/5, Ecke Kronprinzenstraße, das „Gymnasium Illustre“ einrichten. Im 19. Jahrhundert erhielt es den Namen Eberhard-Ludwigs-Gymnasium und wurde an den Holzgarten verlegt, wo es bis zur Kriegszerstörung stand. Dort steht heute die Mensa der Universität. Das Ebelu wurde nach dem Krieg an den oberen Herdweg verlegt auf das Grundstück der im Krieg zerstörten Villa Zeppelin. Die Liste seiner berühmten Schüler ist eindrucksvoll: Gustav Schwab, Eduard Mörike, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Friedrich Cotta, Karl von Gerok, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine beiden Brüder Alexander und Bertold sowie Vicco von Bülow, genannt Loriot und schließlich auch unser Sindelfinger Oberamtsrichter und Dichter des Liedes „Im schönsten Wiesengrunde“, Wilhelm Ganzhorn.
1886 wurde ebenfalls an der Gymnasiumstraße von den Sießener Franziskanerinnen die „Katholische Privattöchterschule“ erbaut. Heute trägt sie den Namen „St. Agnes Mädchengymnasium“ und ist weiterhin ein rein katholisches Gymnasium mit 1.100 Schülerinnen. Das Leitbild der Franziskanerinnen ist die gegenseitige Wertschätzung und Achtung, die Persönlichkeitsbildung nach dem christlichen Menschenbild, die Verantwortung für die Erhaltung der Schöpfung und der Welt und die Förderung der Kreativität. Am Schuleingang ist das Zeichen „Tau“ im Boden eingelassen. Es ist das Gruß- und Segenszeichen des heiligen Franziskus.
Die dritte höhere Schule im Hospitalviertel war das Dillmann Gymnasium. Damals stand es an der ehemaligen Militärstraße, der heutigen Breitscheidstraße nahe dem Stadtgarten. Heute steht es ebenfalls am oberen Herdweg.
Geselliges und kulturelles Leben
Vom ausgehenden 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert war das Hospitalviertel ein Zentrum geselligen und kulturellen Lebens. Eine herausragende Stellung nahm die 1807 gegründete Museumsgesellschaft, auch „Oberes Museum“ genannt, ein. Ihr gehörten Adelige, Diplomaten, Politiker, Generäle, Schriftsteller und Wissenschaftler an. Das Veranstaltungsprogramm war reichhaltig mit Bällen, Konzerten, Vorträgen und Gesellschaftsabenden. Ein Treffpunkt für Künstler und Literaten war das Haus von Eberhard Friedrich Georgii an der Büchsenstraße 50, und auch der Hof- und Domänenrat Johann Georg Hartmann und sein Sohn Georg August öffneten ihr Haus auf dem Bollwerk für Dichter, Künstler, Philosophen und Staatsmänner.
Die Politik
An der Kronprinzenstraße am Friedrichsplatz stand bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg das Ständehaus der beiden württ. Kammern mit dem berühmten Halbmondsaal. Vom 6. bis 18. Juni 1849 tagte in ihm für kurze Zeit das „Rumpfparlament“ der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Als der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die ihm angebotene Kaiserkrone ablehnte und der Deutsche Bund die neue Verfassung nur zögerlich annahm, bekamen die alten Restaurationskräfte wieder die Oberhand. Die konservativen Parlamentarier zogen sich zurück und die Märzrevolution von 1848/49 brach zusammen. 154 vorwiegend linke Parlamentarier zogen nach Stuttgart und tagten – machtlos und nicht anerkannt – im Halbmondsaal. Der württ. König Wilhelm I. war indes kein Freund der neuen Demokratiebewegung. Er ließ die Parlamentarier am 18. Juni von seinen Dragonern von dort vertreiben. Eine Stele an der Leuschnerstraße erinnert an diese kurze Episode der deutschen Parlamentsgeschichte im Stuttgarter Hospitalviertel.
Die Juden im Hospitalviertel
Die Juden in Stuttgart hatten ein sehr wechselvolles Schicksal. Graf Eberhard im Bart vertrieb sie vollständig aus Stuttgart und aus dem Land. Spätere Herzöge erlaubten dann einzelnen Juden wieder den Zuzug und stellten sie unter ihren Schutz. Da ihnen die Ausübung der meisten Berufe und der Landbesitz verboten war, wurden sie in den Städten zumeist Geldhändler und auf dem Land Viehhändler.
Zu dieser Zeit waren Banken noch unbekannt. Wer Geld benötigte, musste es sich gegen einen Schuldschein von einem privaten Kreditgeber leihen. Die Herzöge brauchten für ihre teure Hofhaltung und für ihre Vorhaben enorme Geldmengen. Weil die Landschaft diese nicht bewilligte, wandten sie sich an Juden.
Der berühmteste württ. Jude in der Regierungszeit von Herzog Karl Alexander war Joseph Ben Issachar Süßkind Oppenheimer, kurz Süß Oppenheimer oder verächtlich „Süß“ genannt. Als der Herzog 1736 starb, klagte man Oppenheimer wegen angeblicher Korruption und Ämterverkaufs an. Man verurteilte ihn zum Tod, ließ ihn öffentlich erhängen und danach seine Leiche in einem Eisenkäfig 7 Jahre lang am Galgenberg am Nordbahnhof hängen. Erst Herzog Carl Eugen ließ die verrotteten und von Vögeln zerhackten Reste seines Leichnams nach seinem Regierungsantritt 1744 abnehmen. Das Dritte Reich machte aus seinem Schicksal den widerlichen Film „Jud Süß“ mit Veit Harlan als Regisseur. Der wenig ansehnliche „Süß Oppenheimer Platz“ hinter dem ehemaligen Kaufhaus Hertie erinnert an ihn und diesen offenkundigen Justizmord.
Juden – und auch Katholiken – hatten im rein protestantischen Stuttgart keine Bürgerrechte und durften nicht in der Stadt wohnen. Eine Ausnahmegenehmigung durch den Herzog erhielten einzelne privilegierte Juden, die sog. „Hofjuden“ oder „Schutzjuden“. Die Herzöge und der spätere König Friedrich benutzten sie als sog. „Hoffaktoren“. Deren Tätigkeit war die Belieferung des Hofs und des Heeres mit Gütern und Ausrüstungen und die Beschaffung von Krediten im großen Stil für die aufwändige Hofhaltung. Die Geldgeber machten damit sehr gute aber auch sehr riskante Geschäfte, welche die nichtjüdischen Kaufleute scheuten. Hofjuden genossen dafür Privilegien und durften in der Stadt wohnen, liefen aber immer auch Gefahr, Intrigen zum Opfer zu fallen wie z.B. Süßkind Oppenheimer.
Die Familie Kaulla
Sie war die bekannteste und bedeutendste unter den württembergischen Hoffaktoren. Ihre Stammmutter war Karoline („Chaile“) Raphael. Sie wurde in Buchau am Federsee geboren als Tochter des Isaak Raphael, der Hoffaktor am Haus Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen war. Chaile wurde mit Skiba (Kieve) Auerbach verheiratet. Da er sich mehr religiös als geschäftlich betätigte, übernahm sie seine Pferdehandlung und versorgte in den französichen Revolutionskriegen ab 1792 die Reichsarmee mit Pferden, Sätteln, Waffen, Uniformen und Munition.
Erzherzog Karl von Österreich ließ seine Truppen in den Niederlanden ebenfalls von ihr versorgen, und auch der württ. Herzog Friedrich II. ließ sich von ihr Geld geben für seinen politischen Wechsel an die Seite Napoleons, der ihn dafür 1805 mit dem Königstitel belohnte.
Ihre Beziehung zum württembergischen Hof wurde immer enger. Sie änderte ihren Vornamen Chaile in Kaulla, und dieser wurde bald so berühmt, dass ihn die ganze Familie annahm. Sie wurde von da an nur noch „Madame Kaulla“ genannt.
1802 gründete sie das „Wechsel- und Handelshaus Kaulla“ und unterstützte den König bei der Gründung der Württ. Hofbank mit massiven Geldmitteln. Bald war sie die reichste und einflussreichste Frau Württembergs und stand auf einer Ebene mit den Bankiers Oppenheimer und Rothschild im Reich. 1806 erhielt Mme. Kaulla und ihre ganze Familie die bürgerliche Gleichstellung und durfte sich in Stuttgart ansiedeln. Sie starb im selben Jahr 70-jährig und wurde auf dem israelitischen Friedhof in Hechingen beigesetzt. Auf ihrem Grabstein steht geschrieben:
„Hier liegt geborgen ein seltenes reines Weib. Als Vorbild ihres Stammes wurde sie betrachtet. Eine vornehme Frau, die nach Gerechtigkeit strebte. Unter Königen erwarb sie sich einen guten Namen. An Weisheit, an Rat war sie bedeutender als jeder Mann. Ihr Haus zierte sie mit einem guten Namen. Einen guten Namen für die Ewigkeit hat sie vererbt“.
Die Kaullas blieben nach ihrem Tod in Württemberg weiterhin im Bankwesen tätig und arbeiten auch in Bayern als Industriefinanziers. Von der Familie Kaulla sind auf dem israelitischen Teil des Hoppenlaufriedhofs noch drei Gräber erhalten.
Die Israelitische Gemeinde in Stuttgart und die Synagoge
Mit dem Aufstieg Württembergs im Jahr 1803 zum Kurfürstentum und 1806 zum Königreich verbesserte sich die Lage der Juden, aber es dauerte noch bis 1828, bis sie Untertanen wurden und nochmal 40 Jahre, bis sie als gleichberechtigte Bürger anerkannt wurden.
1837 konnte die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) mit finanzieller Unterstützung der Familien Kaulla und Pfeiffer einen Betsaal in der Lange Straße 16 einrichten. Damit rückte das Hospitalviertel in den Mittelpunkt des religiösen und kulturellen Lebens der Stuttgarter Juden. 1856 erwarb die Gemeinde einen Bauplatz an der Hospitalstraße 36 und errichtete darauf eine repräsentative Synagoge im maurischen Stil. Der Haupteingang war an der Firnhaberstraße.
Juden und Christen lebten in Stuttgart bis zum „Dritten Reich“ störungsfrei zusammen. Juden betrieben große Kaufhäuser wie das von Hermann Tietz an der Königstraße und viele andere Geschäfte oder waren bekannte Musiker, Maler, Ärzte und Wissenschaftler. Jüdische Offiziere zeichneten sich im Ersten Weltkrieg aus und wurden hoch dekoriert und zahlten einen hohen Blutzoll. Juden, die sich nicht religiös gebunden fühlten, konvertierten zum Christentum und ließen sich taufen. Sie wurden dann wie Christen behandelt. Mit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 wurden sie wieder zu Juden gemacht. Alle Juden mussten zusätzlich den Vornamen Israel bzw. Sarah tragen. Später wurden das „J“ in ihre Kennkarte gestempelt.
In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde die Stuttgarter Synagoge, die in Bad Cannstatt und fast alle Synagogen im Reich von bestellten SA Männern angezündet, niedergebrannt und die Trümmer danach vollständig abgetragen. Die Polizei verwehrte den herbeigeeilten Feuerwehren die Löscharbeiten. Die steinernen Gesetzestafeln am Giebel der Stuttgarter Synagoge wurden in der Brandnacht heimlich vom Hausmeister geborgen und vergraben. Sie stehen wieder am Giebel der 1952 neu gebauten Synagoge. Der neue Haupteingang zur Synagoge ist an der Hospitalstraße.
Über 90 Prozent der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, IRGW, sind heute russische Juden, die nach der Wiedervereinigung in der Ära Kohl als Kontingent aus der GUS herzogen. Ihre Umgangssprache ist überwiegend russisch. Die IRGW in Stuttgart und auch der Ritus in der Synagoge sind streng orthodox. Erst jüngst hat sich eine kleine liberale Gemeinde gebildet.
Das Hospitalviertel im 19. Jahrhundert
Als das Hospitalviertel entstand, lag zwischen ihm und der inneren Stadt noch der Große Graben. Ab dem 17. Jahrhundert entstanden an seiner Nordseite Bürgerhäuser und herzogliche Verwaltungsgebäude, wie z.B. die Neue Kanzlei, ehemals das Stockgebäude genannt, die Hauptwache und die Legionskaserne. Im Jahr 1811 ließ König Friedrich I. den Großen Graben zuschütten und darauf die Königstraße anlegen. In seiner Zeit und unter seinem Sohn König Wilhelm I. entstanden der Große Bazar, das Kronprinzenpalais, der Königsbau und zahlreiche weitere repräsentative Gebäude. Sie wurden im Krieg zerstört und ihre ausgebrannten Ruinen wurden danach abgerissen. Nur der Königsbau ist erhalten geblieben.
Auch im Hospitalviertel entstanden repräsentative Gebäude: die Gewerbehalle, das Königliche Steueramt, die Gebäude des Polytechnikums – die heutige Universität -, die neue Garnisonskirche und dazwischen der Stadtgarten mit seinem prächtigen Saalbau. An der Schloßstraße wurde die Liederhalle mit einem wundervollen Saal mit hervorragender Akustik gebaut und daneben das Büchsenbad im maurischen Stil.
Das Landesgewerbeamt
In der Regierungszeit von König Wilhelm I. wurde die „Zentralstelle für Gewerbe und Handel in Stuttgart“ eingerichtet. Das Gebäude wurde vom Berliner Architekten Skjöld Neckelmann, einem Schüler von Mallot, dem Erbauer des Berliner Reichstags, erbaut.
Leiter der Zentralstelle war Dr. Ferdinand Steinbeiss. Er schuf die Grundlagen für den Aufstieg der württembergischen Industrie mit international wettbewerbsfähigen Mustern und Produkten. Dazu baute er 1854 das gewerbliche Schulwesen auf, war am Zustandekommen der Württ. Gewerbeordnung von 1862 beteiligt und hob im selben Jahr die Zunftgerechtsamkeiten auf. Bis dahin hatte das Zunftwesen das Handwerk bestimmt. Nur Mitglieder der Zünfte durften Handwerksbetriebe gründen, und sie bestimmten, wer nach Stuttgart zuziehen durfte. Befreit von diesen Zwängen entstanden im Stuttgarter Westen und Norden große Manufakturen und Industriebetriebe und viele Arbeiterinnen und Arbeiter zogen von nah und fern her. Beispiele sind die Stoff- und Textilfabriken Bleyle und Kübler, Benger und Vollmöller, die Chemiefirmen Jobst, Siegle, Knosp und Hauff, die Brauereien Wulle, Leicht, Dinkelacker, Tivoli, Bartner und Sanwald, die Elektrogerätehersteller Bosch und Fein, die Verlage Cotta, Hallberger, Steinkopf, Kröner und Thienemann oder die Schokoladenhersteller Waldbaur, Moser-Roth, Friedel, Ritter, Buck (Haller) und Stengel & Ziller (Eszet).
Zerstörungen im Weltkrieg und danach
Im Zweiten Weltkrieg wurde das Hospitalviertel, wie die ganze Innenstadt, nahezu vollständig ausgelöscht. Die Fachwerkhäuser brannten bis auf die Grundmauern nieder und von den Steingebäuden blieben nur die Umfassungsmauern übrig.
Weitere Zerstörungen erlitt das Viertel in der Nachkriegszeit. Jetzt wurden die Straßenbaupläne der 1930er Jahre realisiert. Die Häuser in der zuvor engen Rote Straße wurden für eine 60 Meter breite, vierspurige Stadtautobahn abgebrochen und das Viertel damit in einen nördlichen Teil um die Hospitalkirche und einen südlichen Teil um die Calwer Straße und die Kronprinzenstraße zerteilt. Das heutige Hospitalviertel umfasst den nördlichen Teil.
Entlang der in Theodor-Heuss-Straße umbenannten einstigen Roten Straße entstanden große und repräsentative Gebäude, in denen sich das Wirtschaftsministerium und bekannte Geschäfte wie das Einrichtungshaus Gallion einrichteten. Im Inneren des Quartiers entstanden dagegen gesichtslose Gebäude. Nur wenige kriegszerstörte Gebäude wurden wiederaufgebaut, z.B. das Landesgewerbeamt. Es heißt jetzt „Haus der Wirtschaft“ und dient für Ausstellungen und Tagungen.
Die Calwer Straße
Die Häuser an der Calwer Straße sollten allesamt abgerissen werden. Nur das ehemalige Palais Gültlingen am Alten Postplatz blieb erhalten. In ihm befindet sich heute die Gaststätte „Zum Paulaner“. Einer Bürgerinitiative gelang es, an der westlichen Calwer Straße wenigstens die Fassaden zu erhalten. In der Fußgängerzone hat sich eine lebendige Szene gebildet und im Sommer lassen sich Einheimische und Touristen gerne nieder und beleben die Straße.
Mancher erinnert sich noch an den Lebensmittelladen von Oskar Zahn, wo man Brot von der Eselsmühle kaufen konnte. Ein Teil seiner historischen Ladeneinrichtung mit den schönen Bonbongläsern und die Emailleschilder an der niederen Ladendecke wurden ins Bonbonmuseum bei Vaihingen/Enz gebracht und können dort bewundert werden. Der eine oder andere erinnert sich vielleicht noch an die ehemalige Pferdemetzgerei und an den Herrenausstatter Stange. Der berühmte Currywurststand von Udo hat wundersamerweise alle Veränderungen überstanden.
Als 1969 die Großbuchhandlung G. Umbreit & Co mit dem Verlag Fleischhauer & Spohn aus dem Haus Nr. 33 auszog, entstand dort der Firnhaberbau, der später durch Brandstiftung zerstört wurde. Mittlerweile sind viele bekannte Geschäfte aus der Calwer Straße weggezogen, und Gastronomiebetriebe und Kettenläden sind an ihre Stelle getreten. Trotzdem hat das Viertel an der Calwer Straße noch immer ein ansprechendes Gesicht und viel Leben. Schlimmer dran ist das Viertel an der Kronprinzenstraße. Aber auch hier wird die Fußgängerzone mit neuen Plattenbelägen verschönt.
Das Hospitalviertel heute
Nach langer Zeit wurde das Viertel um die Hospitalkirche endlich aufgewertet und verkehrsberuhigt. Statt ständigem Verkehrslärm und endlosen Reihen parkender Autos wurde am Hospitalplatz und in der Büchsenstraße eine Fußgängerzone eingerichtet. Jetzt finden die Besucher hier endlich Ruhe und Muße für die Betrachtung der Gebäude.
Geistliches Leben und fürsorgliche Einrichtungen sind im Quartier vertreten mit dem Hospitalhof, dem CVJM, einem hübschen Café darin, dem christlichen Buchladen und dem Bibelmuseum sowie mit zahlreichen charitativen Einrichtungen der Diakonie. Selbsthilfegruppen nutzen hier jeden Tag Räume. In der Firnhaberstraße hat die Adventsgemeinde ihren Kirchenraum. Die evangelische Kirchengemeinde betreibt in der Hospitalstr. 15 eine Beratungs- und Begegnungsstelle und das Café Kompass sowie eine Wärmestube. Menschen mit Behinderungen benutzen regelmäßig den Sportplatz an der Firnhaberstraße. Der Schwäbische Albverein hat in der Hospitalstraße 21 seine Hauptgeschäftsstelle. Reiches geistiges Leben ist im St. Agnes Gymnasium. Alle diese Einrichtungen springen nicht von alleine ins Auge, sondern bedürfen der Suche. Hinter den stillen Fassaden ist viel Leben!
Neben dem Haus Büchsenstraße 28, der ehemaligen Württ. Hypothekenbank, ist das Renitenztheater eingezogen. Wenn man im Untergeschoss zur Toilette geht, durchschreitet man eine fast meterdicke ehemalige Tresortüre. Das beliebte jugoslawische Restaurant Mira ist zwar für immer verschwunden, aber neue Steakhäuser haben sich hier angesiedelt. Am Abend belebt sich damit wieder das Viertel nach Jahren der Leere und Öde, wenn die Geschäfte geschlossen hatten.
Zerstörung und Wiedereinweihung der Hospitalkirche
Beim schweren Bombenangriff auf Stuttgart am 12./13. September 1944 waren nur der Turmstumpf, die südliche Chorwand und die südliche Mauer des Langhauses stehen geblieben. Die Kreuzigungsgruppe von Hans Seyfer blieb unzerstört, weil sie rechtzeitig im Chor eingemauert worden war. Das Chorgestühl hat ebenfalls den Krieg überdauert und befindet sich heute in der Leonhardskirche.
Durch den Architekten Lempp wurde nach dem Krieg nur der Chor mit seinem schönen Netzgewölbe wiederhergestellt und mit einer einfachen Wand nach Westen hin geschlossen, um wieder eine kleine Kirche für die Gottesdienste zu haben. Die Reste des Langhauses wurden nicht wiederaufgebaut.
Am 5. März 2017 konnte Pfarrer Eberhard Schwarz die neue Hospitalkirche nach jahrelangem Umbau in einem feierlichen Festgottesdienst wieder einweihen. Der Chor wurde wunderbar restauriert und zeigt im Inneren jetzt viel Licht und Transparenz.
Der Hospitalhof ist zu einem neuen geistlichen Zentrum und einer Bildungsstätte mit vielen attraktiven Kurs- und Vortragsangeboten geworden. Das Bildungsgebäude an der Westseite hat eine attraktive moderne Fassade erhalten, und der Innenhof lädt mit vielen Rosenbeeten zum Verweilen und Besinnen ein.
Geschichte des Taufsteins
Nach dem Krieg waren die meisten Trümmer der Hospitalkirche auf den Birkenkopf („Monte Scherbelino“) gefahren worden. Der Sindelfinger Förster Heinrich Spring ließ sich damals einen Teil der Trümmersteine geben und verwendete sie zur Befestigung der Waldwege. Unter diesen Trümmersteinen war auch der alte Taufstein. Für ihn schuf er im Wald nahe dem Katzenbacher Hof eine kleine Anlage mit der lateinischen Inschrift „sic transit gloria mundi“ („so vergeht der Ruhm der Welt“). Den Taufstein ließ er in weiser Voraussicht umdrehen, um ihn vor Verwitterung zu schützen. So blieb er all die Jahre unversehrt. Von hier holte ihn Pfarrer Christoph Schweizer 2016 in die Hospitalkirche zurück. Nach abgeschlossener Restaurierung steht er jetzt wieder an seinem ursprünglichen Standort im zerstörten ehemaligen Langhaus. Sechs kleine Bäumchen symbolisieren die Stellen, wo einmal die Pfeiler des Langhauses standen.
Die ganze Geschichte der Hospitalkirche, ihre Entstehung, Zerstörung und ihr Wiederaufbau sowie ihrer Kunstwerke kann man in einer reich bebilderten Broschüre nachlesen, die in der Kirche erworben werden kann oder im Internet unter www.hospitalkirche-stuttgart.de
Das Reformationsdenkmal auf dem Hospitalplatz
Dieses Denkmal schuf der Bildhauer Jakob Brüllmann im Jahr 1917 aus Anlass der 400 Jahrfeier der Reformation. In der Mitte ist eine Darstellung von Christus mit Siegesfahne nach der Auferstehung aus dem darunter dargestellten Sarkophag. Zu seiner Rechten sitzt Martin Luther und zu seiner Linken der württ. Reformator Johannes Brenz.
Johannes Brenz
Er wurde 1499 in Weil der Stadt geboren und wirkte von 1522 bis 1548 als Reformator im schon protestantisch gewordenen Schwäbisch Hall. Er war Martin Luther 1518 bei dessen Heidelberger Disputation begegnet und war von ihm sehr beeindruckt worden.
Als im Schmalkaldischen Krieg zwischen dem katholischen Kaiser Karl V. und den protestantischen Reichsstädten die kaiserlichen Truppen siegten und nach Süden zogen, floh Brenz und versteckte sich an verschiedenen Orten, z.B. auf Burg Hohenwittlingen und Hornberg und auch in Sindelfingen im Siechenhaus des ehemaligen Klosters, bis er um 1550 wieder öffentlich auftreten konnte. Jetzt unterstützte er Herzog Christoph bei der Durchführung der Reformation in Württemberg. Er half ab 1556 die Klöster zu reformieren und darin evangelische Schulen einzurichten. So entstanden die beiden evangelischen Unterseminare in Schöntal (bis 1975) und Urach (bis 1977) und die beiden Oberseminare in Blaubeuren und Maulbronn. Schüler können sie nach der 8. Gymnasialklasse beziehen, wenn sie das Landexamen bestanden haben. Seit 1969 sind die evangelischen Seminare auch für Mädchen offen. Die ehemaligen Klosterschulen werden heute vom Land und der Kirche gemeinsam getragen und sind reguläre Gymnasien.
1559 schuf Brenz die „Große württembergische Kirchenordnung“, die bis heute die theologische Grundlage der evangelischen Landeskirche in Württemberg ist. Er starb 1570 in Stuttgart und wurde in der Stiftskirche unter der Kanzel beigesetzt. Nach dem Wiederaufbau der Stiftskirche nach dem Krieg wurde sein Grab unter die neue Kanzel verlegt. Eine Tafel an der Kirchenwand erinnert an diesen großen Reformator in Württemberg.
Quellen zum Nachlesen:
Die Literatur über das Hospitalviertel ist sehr zahlreich und umfangreich. Dazu gibt es eine Vielzahl von älteren und neuen Bildbänden sowie von Artikeln im Internet, in denen das Hospitalviertel und die Stadt vor der Zerstörung beschrieben und bebildert sind.
In Wikipedia findet man zahlreiche Artikel über den Hospitalhof, das Reformationsdenkmal auf dem Hospitalplatz sowie über den Reformator Johannes Brenz.
Der ehemalige Leiter des Hauptstaatsarchivs von Baden-Württemberg, Prof. Dr. Paul Sauer, hat über das Hospitalviertel eine ausführliche geschichtliche Abhandlung geschrieben. Einen Auszug seines Festvortrags „Die Bedeutung des Hospitalviertels für Stuttgarts Geschichte, Gegenwart und Zukunft“ am 18. Juli 2003 anlässlich des Stadtteilfests hat das „Forum Hospitalviertel e.V.“ in seine Homepage https://forum-hospitalviertel.de/ eingestellt. Dort findet man auch einen Bilderspaziergang durch das Viertel.